Marina_Kombarki_800Journalisten stellen Fragen und erhalten, meistens, Antworten. Das ist der Kern jeder Recherche. Manchmal aber kommt man nicht zum Fragen. Manchmal ist das Gegenüber schneller, drängender, wissbegieriger, und plötzlich ist es der Journalist, der Antwort geben soll.

„Wann öffnen sie die Grenze?“
„Wie kommen wir nach Deutschland?“
„Warum tut Gott uns das an?“

Ich hatte viele Fragen, ehe ich Anfang März 2016 aufbrach zu meiner Reise ins Epizentrum der europäischen Flüchtlingskrise, in die Türkei und nach Griechenland. Drei Wochen später kehrte ich mit noch mehr Fragen im Gepäck zurück. Mit eigenen Fragen und den Fragen all der Geflüchteten, die ich kennenlernte.

Eigentlich wollte ich den Westbalkan näher kennenlernen. Ich wollte im Kosovo erfahren, warum die Menschen dort ihr Land gen Norden verlassen, wo sie doch so viel gegeben haben für dessen Unabhängigkeit. Mit diesem Anliegen hatte ich mich im Frühjahr 2015 bei der Sir-Hugh-Carleton-Greene-Stiftung um ein Recherche-Stipendium beworben.

Doch dann kamen Zehntausende, Hunderttausende Syrer, Iraker und Afghanen über die Türkei nach Griechenland, nach Europa. Eine Bewegung, die Europa in seinen Grundfesten erschütterte, weil sie die ihrem Selbstverständnis nach wertebasierte Staatengemeinschaft auf die Probe stellte: Wie hältst du es mit der Solidarität, Europa? Eine Frage, auf die es bis heute keine zufriedenstellende Antwort gibt.

Die Bruchlinie dieses Dilemmas verläuft an der türkisch-griechischen Grenze – dort, wo die Geflüchteten an einem Übertritt in die Union gehindert werden sollen. Deswegen begann ich meine Recherchereise in der Türkei und beendete sie in Griechenland.

Wir hören und schreiben oft, dass die Türkei den Geflüchteten Schutz gewähren müsse, nicht ganz so weit von ihrer Heimat entfernt wie Berlin, Amsterdam oder Stockholm. Daher erkundete ich in Istanbul, was  syrische Bürgerkriegsflüchtlinge dazu bewegt, in der Türkei zu bleiben, und andere anspornt, sich auf den gefährlichen Weg über das Meer zu begeben.

Ich lernte einen Saxophonisten aus Aleppo kennen, der am Bosporus sein Glück gefunden hat – weil Istanbul eine Stadt des Jazz ist und weil in den Clubs die Herkunft der Musiker keine Rolle spielt. Der Saxophonist zeigte mir das Viertel Aksaray, wo inzwischen ein Klein-Damaskus entstanden ist: eine Enklave mit syrischen Konditoreien, Restaurants und Juwelieren. Angehörige der syrischen Mittelschicht bauen sich eine Existenz in Istanbul auf – doch wer mit nichts in die Türkei flüchtet, der will dort meist nicht bleiben. Viele Tagelöhner arbeiten schwarz und verdienen kaum mehr als 15 Euro am Tag. Sie sparen für ein Leben in Europa.

Ihr Weg dorthin führt sie meist über Izmir, nur wenige Seemeilen von der griechischen Küste entfernt. Ich reiste dorthin, weil ich hoffte, zumindest einen kleinen Eindruck vom Schleusergeschäft zu gewinnen. Womit ich nicht gerechnet hatte: dass der Menschenhandel auf offener Straße abläuft. Schmuggler, die gerollte Dollarbündel entgegennehmen. Flüchtlingsfamilien, die am Straßenrand auf Schleuser warten. Hoffnungsfroh und ängstlich zugleich. In Izmir beschloss ich, das Wort „Flüchtlingsstrom“ nicht mehr zu gebrauchen. Denn in der Gerichtsmedizin von Izmir fand ich keinen „Flüchtlingsstrom“ aufgebahrt, sondern die auf dem Weg nach Europa ertrunkene Bibiqasi, ihre kleine Tochter Hadeya und ihren kleinen Sohn Ahmad Naweed.

Die europäische Flüchtlingstragödie ist eine Tragödie nicht nur für die Geflüchteten, sondern auch für viele Europäer. Auf der griechischen Insel Chios und im nordgriechischen Dorf Idomeni lernte ich Menschen kennen, in deren Leben diese Krise hereingebrochen ist, die unter dem steten Anblick der Not der Geflüchteten leiden – und die sich doch nicht abwenden, sondern helfen. Dabei ist die griechische Wirtschaftskrise noch lange nicht ausgestanden. Immer neue Steuern und Kürzungen lasten auf der Bevölkerung, aber die Hilfsbereitschaft ist groß und Flüchtlingsheime gehen nicht in Flammen auf.

Ein ums andere Mal führten mir die Eindrücke aus dieser Recherchereise vor Augen, wie relativ doch das Wort von der Flüchtlingskrise ist. In Izmir und auf Chios meint es etwas ganz anderes, Dringlicheres als in Hannover. Ich bin der Sir-Hugh-Carleton-Greene-Stiftung sehr dankbar dafür, dass ich durch sie die Möglichkeit erhielt, das menschliche Antlitz dieser „Krise“ kennenzulernen und es einem größeren Publikum mit meinen Texten näherzubringen.

Lesen Sie hier die Reportage, die Marina Kormbaki nach ihrer Reise in der HAZ veröffentlicht hat: “Ich verstehe nicht, was Gott von mir will