Die Redaktion von ZEIT ONLINE, in der ich arbeite, veranstaltet seit Sommer 2017 ein Projekt namens Deutschland spricht. Dabei kommen Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen miteinander ins Gespräch. Der Anteil der Frauen, die mitgesprochen haben, lag in all den Jahren bei nur etwa 30 Prozent. Beim Nachfolgeformat The World Talks, das diesen Sommer weltweit stattfand, lag der Frauenanteil zwar etwas höher, aber auch nur bei knapp 41 Prozent.

Es ist ein Beispiel von vielen: Frauen sprechen öffentlich seltener als Männer, sie schwiegen öfter und finden weniger Gehör – ob im Bundestag oder an Universitäten, in Fabrikhallen oder der Lokalpolitik. Dasselbe gilt für den Medienbetrieb, für Redaktionskonferenzen, Talkshows, Fernsehen und Radio.

Ich bin eine dieser Frauen. Ich wurde schon oft unterbrochen und es wurde über mich hinweggeredet. Doch mindestens genauso oft habe ich geschwiegen, obwohl mir niemand das Wort verboten hat – und obwohl ich etwas zu sagen hatte.
Es wird Zeit, das zu ändern. Für diese Bewerbung habe ich einen Essay geschrieben, über Frauen und das öffentliche Sprechen. Darüber, was das alles mit Machtverhältnissen zu tun hat und was mit der griechisch-römischen Antike.

Mit Ihrem Fördergeld möchte ich in einem Rhetorik-Seminar lernen, das Wort zu ergreifen und mir Gehör zu verschaffen. Und ich möchte Nachwuchsjournalistinnen ermutigen, lauter zu sein und mitzureden.

Von Männern, Macht und Meetings –
Ein Essay von Friederike Oertel

Wer die Macht hat, hat das Wort. Und Macht haben in Deutschland noch immer mehr Männer als Frauen. Das heißt auch: Sie reden nicht nur häufiger, sondern lauter und länger. Bei Frauen ist die Wahrscheinlichkeit doppelt so hoch, dass sie unterbrochen werden. Das fängt beim Vorstellungsgespräch an und hört im Arbeitsalltag nicht auf. Eine Studie der Princeton University hat gezeigt: Sind mehr Männer als Frauen in einer Gruppe anwesend, reduziert sich die Redezeit der Frauen im Schnitt um ein Viertel bis zu einem Drittel. Für Männer gilt: Je größer eine Gruppe, desto eher wollen sie das Wort ergreifen.
Doch nicht nur im Büro, auch in Fabrikhallen und im deutschen Bundestag sind Frauen seltener zu hören, dasselbe gilt für deutsche Fernsehbildschirme und Kinoleinwände. Schon im Kinderfernsehen erklären vor allem Männer die Welt: Nur eine von vier sprechenden Personen ist weiblich. Bei Moderator:innen ist es jede dritte, bei Tierfiguren sogar nur eine von zehn.

In Fernsehnachrichten für Erwachsene sind 72 Prozent der Sprecher:innen und 79 Prozent der Expert:innen Männer. Auch während der Corona-Pandemie waren mehr als zwei Drittel der befragten Expert:innen in Nachrichtensendungen, Zeitungen und Onlinemedien männlich. Das haben zwei Studien der MaLisa Stiftung herausgefunden.

Die Gesellschaft bildet das nicht ab. Fast die Hälfte der Ärzt:innen sind Frauen.
Das alles kommt mir ziemlich bekannt vor. Auch ich wurde schon unterbrochen, belehrt, nicht ernst genommen. Es wurde über mich hinweggeredet und manchmal habe ich das Gefühl, mit meiner Stimme nicht gegen die meist tiefere und lautere Stimme eines Mannes anzukommen. Ich habe mehr Männern als Frauen öffentlich reden gehört: während meines Studiums, in Seminaren und bei Podiumsdiskussionen. Nur knapp ein Drittel der Professor:innen an deutschen Universitäten sind weiblich, bei den Dekan:innen sind es sogar nur 18 Prozent. Während meiner journalistischen Ausbildung erklärten mir vorwiegend Männer, wie Journalismus funktioniert. Und auch dort, wo ich jetzt arbeite, in deutschen Medienhäusern, haben Frauen weniger zu sagen. Das ist die eine Seite, die man verstehen muss, wenn man verstehen will, warum Frauen weniger sprechen und seltener gehört werden. Sie lässt sich messen und analysieren, sie lässt sich in Zahlen, Grafiken und Tabellen gießen. Es gibt sogar Apps, die das sogenannte “Manterrupting” messen, also wie oft ein Mann eine Frau unterbricht. Das ist nicht schön, aber es macht das Problem greifbar, übersetzt es in Statistiken. Damit lässt sich arbeiten.

Doch es gibt noch eine andere Seite. Die ist komplizierter, denn die bin ich selbst.

Einerseits will ich gesehen werden, aber wenn ich im Mittelpunkt stehe, ist es mir oft unangenehm. Ich will mehr erreichen, mich einbringen, etwas sagen – und bremse mich oft selbst aus. Als ich noch an der Uni war, bereitete ich mich manchmal stundenlang auf ein Seminar vor, nur um dann in den hinteren Reihen Platz zu nehmen und meine Gedanken für mich zu behalten. Plötzlich erschienen sie mir nicht mehr interessant genug, nicht klug genug. Ich zweifelte an meinen Fähigkeiten: Vielleicht war ich nicht intelligent genug und analytisches Denken nie meine Stärke?
Viel zu oft habe ich mich Halbsätze sagen gehört wie: “Ich bin mir nicht sicher” und “Könnte es sein, dass” oder “Tut mir leid” und “Macht das überhaupt Sinn, was ich sage?” Obwohl ich sehr genau wusste, was ich sagen will und worauf ich hinauswollte.
Manches ist mit der Zeit besser geworden, anderes ist so tief in mir verankert, dass ich es nicht einfach abschütteln kann. Und wieder anderes ist so selbstverständlich geworden, dass ich es nicht mehr sehe und die Ursachen nur schwer erkenne.
Die Vorstellung, dass vor allem Männer sprechen sollten, ist uralt. Im alten Griechenland galt das Schweigen als die Zierde der Frau. Die englische Althistorikerin Mary Beard zeigt in ihrem Manifest Frauen und Macht, wie tief die Mechanismen in unserer Kultur verwurzelt sind, die Frauen noch heute zum Schweigen bringen und dadurch “aus den Machtzentren ausschließen”1.
Schon bei den alten Griechen und Römern wurden Frauen aktiv und teils gewaltvoll von der öffentlichen Rede abgehalten, davon erzählt die antike Literatur. In Homers Odyssee verbietet Penelopes eigener Sohn ihr das Wort. “Du aber”, sagt er, “gehe ins Haus und besorge die eignen Geschäfte, / Spindel und Webstuhl … die Rede ist Sache der Männer”2. In den Metamorphosen wird Prinzessin Philomela vergewaltigt. Der Täter schneidet ihr die Zunge heraus, damit sie ihn nicht denunzieren kann 3. Im 4. Jahrhundert schrieb der Dichter Aristophanes eine Komödie namens Weibervolksversammlung über die damals absurde Idee, Frauen könnten Politik machen. “Ein Teil des Witzes ergab sich daraus, dass Frauen nicht in der Lage waren, sich in der Öffentlichkeit angemessen zu äußern”, schreibt Mary Beard 4. Römische Historiker beschwerten sich über Frauen, die “schamlos” genug waren, sich vor Gericht selbst zu verteidigen. “Die öffentliche Rede war ein, wenn nicht das konstitutive Attribut der Männlichkeit”, so Beard 5. “Wie ein wissenschaftlicher Traktat es explizit formulierte, war die tiefe Tonlage das Kennzeichen männlichen Mutes, während eine hohe Tonlage auf weibliche Feigheit hindeutete.”6
Das mag alles lange her sein. Heute sprechen Frauen in Parlamenten, Betriebsräten und der Tagesschau. Sie leiten Autohäuser, Apotheken und Kindergärten. Und doch, sagt Mary Beard, sind wir alle Erb:innen dieser Stereotype des genderspezifischen Sprechens.

1 Beard: S. 9
2 Beard: S. 10
3 Beard: S. 13
4 Beard S. 12
5 Beard: S. 14
6 Beard: S. 14

Bis heute werden Männerstimmen als kompetenter, attraktiver und vertrauenswürdiger wahrgenommen. Studien haben gezeigt, dass Frauen in Videokonferenzen weniger charismatisch und damit auch weniger glaubwürdig, entschlossen und überzeugend wirken. Die Kompression der Audiodaten, die bei der Übertragung stattfindet, wurde für Männerstimmen konzipiert.
Bis heute lernen Mädchen in der Schule, in der Werbung und oft auch zuhause, dass sie ruhig und zurückhaltend sein sollten, diszipliniert und duldsam. Sie lernen, sich und ihre Stimme zurückzunehmen. Sie lernen leise mitzuschreiben, anstatt laut reinzureden. Auch das zeigen Studien.
Zu den öffentlichen Reden von Frauen, die in die Geschichtsbücher eingehen, gehören vor allem jene, die sich mit vermeintlichen “Frauenthemen” beschäftigen 7 – von Emmeline Pankhursts Rede Freiheit und Tod über das Frauenwahlrecht bis hin zu Hillary Clintons Rede bei der UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in Peking. Diese Themen sind wichtig, keine Frage. “Aber es bleibt eine Tatsache”, schreibt die Althistorikerin Beard, “dass der öffentlichen Rede von Frauen diese ‘Nische’ seit Jahrhunderten zugewiesen ist”8.

Ich habe es satt. Ich möchte keine Angst mehr haben, zu hoch zu sprechen oder zu leise. Ich möchte nicht mehr mit angezogener Handbremse fahren. Ich möchte selbstbewusst “Ja” sagen können, wenn ich eine Anfrage für ein Interview, einen Podcast oder eine Talkshow bekomme. Und manchmal möchte ich auch einfach nur schlagfertig genug sein, um sagen zu können: “Warte kurz Martin, ich war noch nicht fertig”. Ich möchte lernen, frei und authentisch zu sprechen. Ich möchte meine Stimme erheben und das Wort ergreifen – für mich und für andere. Denn Macht ist, frei nach Mary Beard, nichts, das man besitzt, sondern etwas, dessen man sich “ermächtigen” kann – zum Beispiel durch Sprache.

7 vgl. Beard: S. 16
8 Beard: S. 18