Mit dem Text „Balanceakt“, erschienen am 5. Januar 2023 im stern- Magazin , möchte ich Ihnen eine besondere Perspektive auf das Thema „Migrationshintergrund: Zwischen Last und Vorteil“ aufzeigen.
Der Protagonist meiner Geschichte durchlebt seit 2019 einen sehr ambivalenten Prozess der Migration. Er fühlt sich geradezu zerrissen. Denn während er im reichen Westen lebt, verbringt seine Mutter ein Leben in Armut.

Herkunft ist unabänderlich. Sie prägt, bis ans Lebensende, egal, wo man ist. Für Jon-Owino Ochieng, dem Helden meiner Geschichte, ist sie Fluch und Segen zugleich. Er stammt aus Kibera in Nairobi, einem der größten Slums Ostafrikas. Mit 16 Jahren verließ er den Moloch aus Müll und Abgasen und ging nach Deutschland – um Zirkusartist zu werden. Nach erfolgreich abgeschlossener Ausbildung zog er nach Rotterdam. Dort ist er noch immer, an einer der renommiertesten Artistikhochschulen der Welt.

Aber Jon hadert. Mit sich und der Welt. Als Nicht-EU-Bürger bekommt er kein Bafög. Und obwohl er Freunde gefunden hat, kann ihn niemand so recht auffangen. Er ist weit weg von seinem Zuhause. Seine Mutter und sein Bruder leben noch immer dort, in der Wellblechhütte im Slum. Täglich denkt er an sie. Er denkt an die Sonntage, an denen alle zusammensaßen und Ugali, einen Maisbrei, kochten. Er denkt an die Gemeinschaft.

Manchmal will Jon alles abzubrechen, alles hinter sich lassen und wieder zurückzugehen in den Slum, dorthin, wo er alle kennt, wo die Menschen so wie er sind, herzlich, aufgeschlossen und hilfsbereit. Aber dann gibt es immer wieder die Momente, in denen er glücklich ist. Seine Klassenkameraden lachen mit ihm, sie wollen mit ihm tanzen, durch die Straßen von Rotterdam ziehen und das Leben feiern. Mittlerweile kann Jon das genießen. Und er kann seiner Familie Geld schicken, auch wenn er selbst nicht viel hat und die Miete hoch ist. Vor kurzem ist eine Modelagentur auf ihn aufmerksam geworden. Seine Art, sich zu bewegen, seine Präsenz vor der Kamera, er wird dafür geliebt. Jon ist besonders. Und das weiß er.

Aber den Kampf, den er kämpft, macht all das nicht einfacher, sondern nur erträglicher. Er ist ein Tänzer in zwei verschiedenen Welten.

Die Geschichte von Jon aus Kenia, erzählt von Tim Winter, freier Journalist für den stern hat das Kuratorium überzeugt.
Das Preisgeld der Sir-Greene-Stiftung gibt mir die Möglichkeit, weiterhin meinen journalistischen Herzensprojekten nachzugehen und Geschichten von Menschen aufzuschreiben, deren Perspektive im gesellschaftlichen Diskurs kaum oder gar nicht abgebildet wird.“ Tim Winter 2023