Es ist Montag, der 1. Juli, als ich mit der Fähre bei Lüneburg über die Elbe setze. Die Sonne scheint, Fahrradtouristen rollen über den Deich, ein Restaurant verkauft Coffee to go. Es ist eine Idylle. Doch genau an diesem Ort verlief vor dreißig Jahren eine Grenze: Stacheldrahtzaun, Wachtürme, Soldaten, die auf und ab patrouillierten. Sie sind der eigentliche Grund, warum ich dort bin. Denn heute erinnert nur ein Gedenkstein noch an diese Zeit, die deutsch-deutsche Teilung ist Geschichte. Zumindest auf dem Papier, denn in Wahrheit dauert der Prozess der Wiedervereinigung bis heute an.

Als ich im Jahr 1990 in Niedersachsen geboren wurde, beschlossen die Regierungen von DDR und BRD im selben Jahr den Einigungspakt. Heute, im Jahr 2019, fühlt sich das Land immer noch wie geteilt an. Im Jahr der anstehenden drei Landtagswahlen wollte ich dem nachspüren. Sieben Wochen und einen Tag bin ich im Sommer 2019 durch die ostdeutschen Bundesländer gereist. Ich bin getrampt und habe bei fremden Menschen übernachtet. In Lokalredaktionen habe ich meine Dienste angeboten. Ich wollte die ostdeutsche Perspektive auf dieses Land erfahren und herausfinden: Wie geht es dem Lokaljournalismus in Ostdeutschland?

Die Sir-Greene-Stiftung hat mich bei diesem Projekt unterstützt. Es ist eine etwas ungewöhnliche Art der Weiterbildung, aber, davon bin ich überzeugt, eine wichtige für junge Journalist:innen.

Juli 2019: Von der Elbe aus trampe ich in Richtung Rostock, ich schlafe in einer Gartenlaube und zelte in einem Vorgarten. Bei meinen Begegnungen spreche ich über die Wende, über die Nachwendezeit, darüber, was Ost- und Westdeutschland bis heute trennt. Viele meiner Gegenüber haben das Gefühl: Niemand interessiert sich für ihre Geschichten. Manche sagen: „Früher war es besser.“ Die Dörfer, die ich durchquere wirken von ihren Einwohnern verlassen, geschlossene Läden, kaum öffentlicher Nahverkehr.

In Rostock übernachte ich beim Redakteur des Straßenmagazins „Strohhalm“. Frank Schlößer hat lange versucht eine lokale Internet-Zeitung aufzubauen, jetzt konzipiert er die Straßenzeitung, mit deren Verkauf etwa hundert Menschen ihren Lebensunterhalt bestreiten. Ich diskutiere mit Schlößer über die neuesten Heftthemen und begleite Verkäufer bei ihrer Arbeit. Außerdem spreche ich mit ihm über sein Leben, denn was ich bald erfahre: Er hatte als junger Mann für die Stasi gearbeitet. Was hat das mit seinem Lebenslauf gemacht? Wie blickt er auf die Wiedervereinigung? Und: Bereut er?

Ich versuche zu verstehen: Was hat es bedeutet, in einer Diktatur zu leben – und wer bewertet anschließend dieses Leben? Schlößer jedenfalls kämpft bis heute mit der Wiedervereinigung, aber auch mit seiner eigenen Rolle im System.

Es ist eine spannende Begegnung, die ich auf meinem Blog ostwalz.de festhalte. Dort sammle ich Geschichten von Menschen, die mir unterwegs begegnen.

Es ist wieder ein Montagmorgen, etwa zwei Wochen später, als ich ins Büro des Nordkuriers spaziere. Der Nordkurier ist die größte Regionalzeitung Mecklenburg-Vorpommerns, und in Neubrandenburg sitzt mittlerweile ein großer Teil der Redaktion. Ich stelle mich vor und bitte um Arbeit – im Austausch gegen Kost und Logis.

Es ist mein erster Versuch als „wandernder Journalist“ – und die Redaktion sagt zu. Sie bieten mir einen Schlafplatz an und der Chefredakteur stellt mich seinen Kollegen vor. Er sagt: „Es fehlt die Verbindung zwischen lokalen und überregionalen Medien.“ Für den Nordkurier ziehe ich tagelang durch die Stadt, schreibe eine Stadtteilreportage und diskutiere mit dem Chefredakteur über Ost- und Westmedien und die Zukunft des Lokaljournalismus.

Dort merke ich außerdem: Die Wiedervereinigung ist ein komplexes Projekt, das noch lange nicht abgeschlossen ist. Nicht nur die alte Generation kämpft damit, sondern längst auch Menschen meines Alters. Ich erfahre viel über die ostdeutsche Identität, die sich mit der Nachwendezeit erst gebildet hat. Es ist ein spannender Auftakt für die restliche Reise.

Ich trampe durch Brandenburg und Sachsen. Werde von Fremden eingeladen, höre unzählige Geschichten, diskutiere über Politik und Gesellschaft. Ich lerne das Land, in dem ich lebe, noch einmal neu kennen. Und ich merke: Die Menschen sind bereit ihre Vorbehalte gegenüber Journalisten zurückzustellen und mit mir ins Gespräch zu kommen. Ich habe auch das Gefühl: Dem Land fehlt oft der Dialog, die Menschen ziehen sich ins Private zurück. Die Lokalzeitungen, die eigentlich ein öffentlicher Streitraum sein könnten, verlieren extrem schnell an Bedeutung.

In Zwickau bleibe ich für meine zweite Lokalstation. Die Freie Presse hatte mich eingeladen. Ich bekomme ein Gästezimmer vom Chefredakteur des Lokalteils und schreibe für die Zeitung über Festivals, Wirtschaftsanlagen und Bergleute. Die Station in Zwickau ist noch ein Schritt weiter ins Lokale, aber es ist ein spannender Schritt, denn ich arbeite mit einer engagierten Redaktion, die mit den Kürzungen im Lokalen zu kämpfen hat. Ich erfahre viel über die Hürden und Möglichkeiten des deutschen Lokaljournalismus.

Von Zwickau aus reise ich per Anhalter weiter über Halle nach Thüringen. Ich besuche die Studierendenzeitungen in Jena und Weimar und treffe mich mit Nachwuchsjournalisten, die über die schlechten Gehälter von Freien Journalisten im Lokalen klagen. Ich lerne viel darüber, was es bedeutet, wenn die Vielfalt bei den Lokalzeitungen weiter abnimmt und alle Blätter vom selben Mantelteil beliefert werden. Und ich merke auch, wie ängstlich einige Redaktionen auf Innovationen reagieren. In Thüringen ist keine Lokalredaktion bereit, mich für einige Tage mitarbeiten zu lassen.

Also reise ich zurück nach Sachsen. In Leipzig beschäftige ich mich mit der friedlichen Revolution, in Chemnitz beobachte ich einen Hooligan-Marsch und in Sachsen darf ich ein paar Tage bei der Sachsen-WG der taz aus Berlin verbringen. Anlässlich der Landtagswahlen hatte die Zeitung aus Berlin eine Lokalredaktion in Dresden ins Leben gerufen, die für einige Wochen aus Ostdeutschland berichten soll. Nicht alle Kollegen aus dem Lokalen fanden das Projekt gelungen. Ich treffe mich mit Journalisten der Sächsischen Zeitung, die das Gefühl haben: Schon wieder berichtet nur der Westen über den Osten, anstatt die Kollegen von vor Ort zu Wort kommen zu lassen.

Die letzte Station meiner Reise soll Frankfurt/Oder sein. Eine Stadt, die vielleicht den drastischsten Wandel durchgemacht hat. Doch kurz vor Ende meiner Reise werde ich krank, ein Magen-Darm-Infekt. Fünf Tage früher als geplant breche ich ab.

Fast sieben Wochen lang bin ich schließlich unterwegs gewesen. Es war ein spannender Einblick. Ich habe viel gelernt, über Ostdeutschland, über den Lokaljournalismus und über das, was abseits der großen Schlagzeilen die Menschen bewegt. Auf meinem Blog habe ich viele Geschichten festgehalten, ich habe Reportagen fürs Radio produziert und bin mit dem NDR einige Tage gereist. Es war eine wertvolle Erfahrung, die mich in meiner zukünftigen Arbeit sehr prägen wird. Davon bin ich überzeugt.

Lesen Sie hier weiter: Ostwalz – eine Journalisten-Wanderschaft durch Ostdeutschland, Blog von Paul-Jonas Hildebrandt.