Schnee bedeckt Sarajevo. Minarette, Kirchen und Synagogen ragen aus der Winterlandschaft hervor. Die Miljacka fließt vor den Toren der Altstadt am frisch renovierten Rathaus entlang. Dahinter erheben sich die Gipfel der Dinarischen Alpen. Alles ist weiß. Es könnte so idyllisch sein. Wären da nicht überall diese kleinen Krater, die sich in die Fassaden der Häuser bohren. Die kann auch der Schnee nicht überdecken. Es sind Einschusslöcher, Überbleibsel des Krieges, der hier vor 25 Jahren tobte.

Sarajevo liegt in einem Talkessel. Wunderschön sieht die Winterlandschaft im Frühjahr 2018 aus. Doch während ich die steilen Bergstraßen Sarajevos hinauf- und hinabstampfe, denke ich immerzu: Diesen Weg hättest du meiden müssen im Krieg, als das serbische Militär sich in den Bergen rund um die Stadt verschanzte. Sie hätten freie Sicht auf dich gehabt. Du wärst ein einfaches Ziel gewesen.

Ich bin in Sarajevo, um mit den Kriegskindern von damals zu sprechen. Mit jenen, die ihre Kindheit in den neunziger Jahren in den Kellern der Stadt verbrachten, die erlebten, wie Menschen auf offener Straße erschossen wurden, die hungerten, die um ihr Leben fürchteten. Aber nicht nur das passierte in den Kellern der Stadt: Hier wurde auch gespielt, musiziert, getanzt und gelacht. Zum Krieg gehört eben auch Alltag.

Es ist nicht ganz einfach, die Kriegskinder von damals zum Reden zu bekommen, denn all das Reden über den Krieg habe doch nichts gebracht, sagen mir viele.

Zwar herrscht seit dem 1995 geschlossenen Vertrag von Dayton offiziell Frieden im Land. Doch die Gräben zwischen den Ethnien, den serbischen, kroatischen und muslimischen Bosniern sind noch immer tief. Drei Präsidenten vertreten die Belange ihrer Volksgruppe. Vetternwirtschaft und Korruption lähmen die Gesellschaft.

Heute sind die Kinder von damals in ihren Dreißigern. Ich treffe sie in ihren Häusern, in Cafés, auf der Straße. Ich gehe mit ihnen spazieren durch Straßenzüge, die man früher Snipers Alley (Heckenschützen-Gasse) nannte, weil sich in den Häusern rundherum bewaffnete Männer verschanzt hatten, die wahllos auf Passanten feuerten. Die Kriegskinder von damals erzählen mir von der Lethargie, die über dem Land liegt, davon, dass sie es eigentlich sein sollten, die das Land verändern, voranbringen. Stattdessen träumen die meisten von einem Leben im Ausland.

Eine meiner Protagonistinnen, Belma Rizvanovik, berichtet mir in einer Bar in einem Einkaufszentrum in Sarajevo von dem schwarzen Humor der Bosnier. Sie lachen einfach weiter, trotz allem.

Auch Belma lacht, als sie mir erzählt, dass ihre Mutter auf dem Weg zur Arbeit täglich die Zmaja od Bosne, eine der zu Kriegszeiten gefürchtetsten Straßen Sarajevos, überqueren musste. Sie habe es in ihren besten Kleidungsstück, mit hohen Absätzen und makelloser Frisur getan. „In den gefährlichsten Situationen des Lebens sehen die Frauen in Bosnien perfekt aus“, sagt Belma. „Sarajevo-Syndrom“ nennen die Bosnier das.

Ist das Trotz? Mut? Oder einfach nur erschütternd? Noch heute sieht man an jeder Ecke in Sarajevo einen Friseur. Vielleicht macht das „Sarajevo-Syndrom“ das Leben in der Stadt erträglicher, in einem Land, in dem jeder Vierte ohne Arbeit ist und die Jugendarbeitslosigkeit bei 67,5 Prozent liegt.

23 Jahre nach Kriegsende herrscht Stillstand in Bosnien und Herzegowina. Für Westeuropäer ist der Bosnien-Krieg lange her, beinahe vergessen. In Bosnien ist der Krieg allgegenwärtig, sichtbar im Straßenbild, in den Köpfen der Menschen, zementiert in der Staatsverfassung.

Ich freue mich, dass mir die Sir-Greene-Stiftung die Möglichkeit gegeben hat, auf das Dilemma der Bosnier aufmerksam zu machen und den Kindern von damals eine Stimme zu geben.

Artikel, die durch das Stipendium ermöglicht wurden, sind u.a. erschienen in: Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel, Sächsische Zeitung, Mindener Tageblatt.

Nach Stationen bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und dem Norddeutschen Rundfunk arbeitet Stefanie Nickel heute als freie Journalistin in Hannover. Ihre Texte sind u.a. erschienen in chrismon, Stern, Brigitte, Frankfurter Rundschau und Tagesspiegel. Kontakt: info@stefanienickel.de