Babysitting for the BBC

Tarek Abu Ajamieh15 Minuten im Doppeldecker-Bus, 15 Minuten in der U-Bahn, ein Gang über die Straße. An guten Tagen dauert es nur eine halbe Stunde vom kleinen Reihenhaus in Hanwell bis zum „Television Center“ der BBC in Shepherd’s Bush. Beides im Westen Londons. Für die meisten meiner Kollegen unglaublich nah, viele finden die dreifache Fahrtzeit normal – oder mehr. In Hildesheim gehe ich sechs Minuten zu Fuß zur Arbeit.

Man könnte Seiten allein über die unterschiedlichen Dimensionen schreiben. Das „Büro“ im ersten Stock hat die Ausmaße einer Turnhalle, es ist nur flacher. Die Teams der verschiedenen Sendungen sitzen an Zehnertischen zusammen, jedes eine Insel für sich und doch in Rufweite der anderen.

Erstes Meeting. Durch eine Glaswand von der „Turnhalle“ getrennt, lümmeln wir uns lässig auf abgewetzten lila Sofas. Abgewetzt, aber bequem. Atmosphäre viel lockerer, als würde man auf Stühlen um einen Tisch herum sitzen. Überhaupt die Lockerheit: Meine Hemden verschwinden nach einer Woche im Schrank. Kleider machen hier keine Leute. Auf jeden Anzug kommen zehn ausgewaschene T-Shirts.

Ich verstehe nur die Hälfte. Ein Schock. Plötzlich wird mir klar, wie sich ein Ausländer in Sachsen oder Bayern fühlen muss. Die Kollegen trösten mich: „Your English is much better than my German!“ Es dauert ein paar Wochen, dann verstehe ich alles. Hätte ich nicht erwartet. Unabhängig davon beeindruckt die Diskussionskultur: Hierarchie spielt keine Rolle, alles wird ausdiskutiert, jeder gehört. Großes gegenseitiges Vertrauen, professioneller Respekt vor Können und Wissen des Anderen.

Die erste Woche ist schwer. Alles neu. Die Kollegen unsicher: Wie viel Englisch kann der? Wieso hat er keine Radio-Erfahrung? In der zweiten Woche sind Bundestagswahlen. Plötzlich bin ich ein gefragter Mann. Ein komisches Wahlrecht habt Ihr Deutsche! Und was bitte ist eine Zweitstimmenkampagne? Ich finde eine Gruppe Berliner Gymnasiasten, die früh morgens in unser Studio in Cambridge kommt und aus Jungwähler-Sicht über die Wahl spricht. Für den Wahlabend leiht mich mein Team „Weekend Breakfast“ an die Abendnachrichten aus, zur Unterstützung. Die verstehen das falsch und planen mich als Interviewpartner ein. Also versuche ich auf Englisch die Wahl zu analysieren. Ich gebe mir ein „befriedigend“.

Mein Deutsch machen sie sich überraschend oft zu Nutze: Österreich blockiert die EU-Gespräche mit der Türkei? Die österreichische Nationalmannschaft spielt gegen England? Gerüchte über einen Wechsel von Michael Ballack zu Manchester United? Immer wieder verwirre ich Sekretärinnen und Journalisten in Wien und München mit hochdeutschen Anrufen von der BBC. Ich staune, dass hier so oft Journalisten andere Journalisten interviewen, und die Journalisten auf dem Kontinent wundern sich auch. Meine Kollegen hier wundern sich, dass wir uns wundern … kulturelle Unterschiede. Aber es kommen interessante Beiträge dabei heraus.

Inzwischen habe ich schneiden gelernt, darf Beiträge selber schneiden und Clips zusammenstellen. Sehr interessant und schön, weil es „echt Radio“ ist, während Recherche nur thematisch etwas Neues ist. Recherche-Themen hier in London sind für mich so unterschiedliche Geschichten wie der Führungswechsel bei British Airways, der neue Airbus A380, de neue Wallace & Gromit-Film, Eintrittspreise in Europas größten Fußball-Ligen oder Hochwasser in Großbritannien in den vergangenen fünf Jahren. Ich lerne Google und Wikipedia noch besser kennen.

Und ich lerne Rami kennen. Ramis ist zehn Monate alt und Iraker, und am Tag des Verfassungs-Referendums in seiner Heimat senden wir vom Wohnzimmer seiner Eltern in Wimbledon aus. Während sie in ihrem verkabelten Wohnzimmer mit der Moderatorin über die Zukunft ihres Landes diskutieren, gehe ich mit Rami auf dem Arm in der frischen Morgenluft spazieren, damit er nicht dazwischen brüllt – Babysitting for the BBC.

Eine Woche später staffiere ich mich mit Kapuzenshirt und Baseball-Cap aus, kaue mit offenem Mund Kaugummi und gucke Passanten drohend an. Eine Kollegin mit Mikrofon fragt die Menschen auf der Straße, ob sie sich von dieser Erscheinung bedroht fühlen – das Thema ist die öffentliche Debatte über ein mögliches Verbot von Kapuzen und Caps in Shopping Malls, weil man den „Hoodies“ vorwirft, ihre Identität vor den allgegenwärtigen Überwachungskameras zu verbergen und Leute einzuschüchtern. Schade nur, dass es kein Fernsehbeitrag war!

Eine Menge Abwechslung also, auch wenn es Tage gab, an denen man praktisch gar nichts machen konnte, außer anderen über die Schulter zu gucken. Der Eindruck, der sich am meisten eingebrannt hat, ist freilich der von der großartigen Diskussionskultur zwischen den Redakteuren, der Verzicht auf die Eitelkeit im Sinne des Ganzen.